"Die Differenz von Recht und Moral bei Kant" - Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Rainer Schäfer (Universität Bonn) bei der LESE

Der General-Anzeiger Bonn hat in einem gut recherchierten Beitrag vom 9. Februar 2023 seine Leserinnen und Leser auf die Lese- und Erholungsgesellschaft von 1787 (kurz: LESE) als historische und aktuelle Bonner Bürgergesellschaft aufmerksam gemacht. Dies hängt mit einem bedeutenden Jubiläum zusammen.

 

Am 22. April 2024 jährt sich zum 300. Mal der Geburtstag des großen Denkers der Aufklärung Immanuel Kant (+1804). Dieser gilt als der weltweit meistzitierte Philosoph. Für Bonn ist es ein Glücksfall, dass ihrer Universität von Kant-Gesellschaft und Regierung die Ausrichtung des 14. Internationalen Kant-Kongresses („Kants Projekt der Aufklärung“) vom 8.-13. September 2024 anvertraut wurde und die Bundeskunsthalle eine Ausstellung „Immanuel Kant und der Geist der Aufklärung“ (24.11.2023 – 10.3.2024) anbieten wird.

 

Immanuel Kant

 Es fügt sich gut, dass das Erinnern an einen Philosophen, der sich um Menschenwürde, Freiheitsrechte, Moral und Gerechtigkeit richtungsweisende Gedanken gemacht hat, mit dem 75. Jubiläum des Bonner Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 und dessen Grundrechtskatalog zusammenfällt, was 2024 ebenfalls in Bonn gefeiert werden wird.

 

Die Frage der Wirkungsgeschichte von Kant für Menschheitsfragen und das menschliche Miteinander in einer Welt des Wandels ist aktuell.

 

  Daher beabsichtigt auch die LESE, die der Kölner Historiker Univ.-Prof. Dr. Otto Dann als „treibende Kraft der Aufklärungsbewegung in Bonn“ bezeichnet hat, das bevorstehende Kantjubiläum im Rahmen ihres Programms zu würdigen. Für die LESE gibt es ein besonderes Momentum: Just in ihrem Gründungsjahr 1787 gelang Immanuel Kant mit der überarbeiteten zweiten Auflage seiner Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ - vergleichsweise spät - der wissenschaftliche Durchbruch. Das Werk gilt als Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und als Beginn der modernen Philosophie.

 

Den Auftakt für eine geplante Vortragsreihe in der LESE machte am 13. Februar Prof. Schäfer (Philosophische Fakultät Bonn) mit einem Vortrag über Die Differenz von Recht und Moral bei Kant“. Auch dank eines herausgehobenen Hinweises des General-Anzeigers auf die öffentliche Einladung der LESE zu dieser Vortragsveranstaltung unter dem Motto „Kant-Jahr in Bonn“ geriet diese zu einer lebhaften und inspirierenden Begegnung mit und zwischen Mitgliedern der LESE sowie Leserinnen und Lesern des Generalanzeigers: in einem prall gefüllten Clubraum der Gesellschaft, mit einem diskussionsfreudigen Publikum und einem Wissenschaftler, dem es gelang, die anspruchsvolle, wissenschaftlich in sich geschlossene Denkwelt Kants - eine harte Kost für Normalbürger mit philosophischem Interesse - zu skizzieren und zugleich für Fragen der Gegenwart alltagstauglich zu machen.

 

Einleitend trug Dr. Emil Schwippert, Vorsitzender der LESE, einen momentan sehr diskutierten Fall aus der Rechtsprechung vor, den Prof. Schäfer anschließend aus der Sicht von Kant philosophisch einordnete: Den Fall einer 97jährigen ehemaligen Stenotypistin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig, die im Dezember 2022 vom Landgericht Itzehoe zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord zwischen 1943 und 1945 an mindestens 10.000 Häftlingen verurteilt wurde. Die Frau war zur Tatzeit 18/19 Jahre alt. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

 

 Für diskussionsfähig zwischen Recht und Moral hielt Dr. Schwippert den Wandel der deutschen Rechtsprechung von den ersten Nachkriegsjahren mit einer „Schlussstrich“-Mentalität, in denen Angeklagten die Beteiligung an konkreten Morden im Einzelfall nachgewiesen werden musste, was bei der Massenhaftigkeit des Geschehens auf der Opfer- wie auf der Täterseite die Beweisführung extrem erschwerte, bis zur späteren höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach auch „kleinere Rädchen“ in Form der Beihilfe eine zentrale Rolle beim Völkermord an den Juden gespielt hätten. Mord verjähre nicht, auch nicht Beihilfe zum Mord. Im Strafrecht gehe es auch darum, den Rechtsfrieden wiederherzustellen.

 

 Auch, so Schwippert, seien weitere Aspekte bemerkenswert: Die praktizierte Anwendung des Jugendstrafrechts, das Strafmaß von zwei Jahren (für Beihilfe zum Mord in 10.000 Fällen) sowie eine Strafe auf Bewährung, die nur ausgesprochen werden dürfe, wenn „die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen nicht geboten“ sei, das heißt, zu erwarten sei, dass der Verurteilte „auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen“ werde (§ 21 Abs. 1 und 2 Jugendgerichtsgesetz).

 

 Prof. Schäfer führte in die Gedankenwelt von Kant ein und stellte voran, dass dieser jedem Menschen ein Recht auf freies Handeln zusprach, ihn aber zugleich auch in der Pflicht sah, die Freiheit der anderen nicht zu verletzen. Strafe für Verletzungen anderer hielt Kant für erforderlich. Deren Art und Höhe sollten sich allein nach der Tat richten. Rache, Motivation des Täters, „Schwere Jugend“, Abschreckung, Präventionsgedanken, die heute Strafgerichte berücksichtigen, hätten keine Rolle zu spielen. Kant misstraute durchaus im Subjektiven liegenden Einlassungen des Täters und des Opfers.

 

Kerngedanke Kants, so Schäfer, war: Der Mensch könne niemals bloßes Objekt für andere Menschen sein. Die Tat (des Täters!) trage die Strafe in sich! Der Sinn von Strafe könne weder in der Genugtuung des Opfers noch in einer Prävention in Richtung Gesellschaft liegen. Bei der Strafe gehe es also allein um den Täter selbst. Überspitzt ausgedrückt: Der Täter hat (aus seiner Würde heraus) geradezu einen Anspruch auf Strafe.

 

  Hier öffnete Schäfer aus heutiger gesellschaftlicher Wertung die Tür zur Kritik daran, dass es bei der Bestrafung allein um den Täter, nicht aber um das Opfer und dessen Betroffenheit gehen solle. Ein Blick auf die Missbrauchsfälle in den Kirchen und anderen Institutionen macht die Berechtigung kritischen Hinterfragens deutlich.

 

  Die Differenz zwischen Recht und Moral bei Kant werde, so Schäfer, in der strafrechtlichen Behandlung von Mord sichtbar. Kant habe die Todesstrafe bei Mord befürwortet: 'Hat er gemordet, so muss er sterben', sagte er. Dies basierte letztlich auf dem Grundgedanken des babylonischen und alttestamentarischen Prinzips des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der heikle Aspekt, welche Strafe Kant bei Unverjährbarkeit von Mord im Falle einer Beihilfe dazu für gerecht, vernünftig und moralisch angemessen angesehen hätte, ist spekulativ und blieb von allen Seiten unangesprochen. Mit seinem Hinweis auf die bedingungsfreie Anknüpfung der Strafe an die Tat bestätigte Schäfer indirekt, dass Kant gegen die Verurteilung einer 97jährigen Frau keine Einwände gehabt hätte. Damalige Vertreter der Todesstrafe meinten, dass Mörder eine Strafe erhalten müssten, die genau so schrecklich sei wie das verlorene Leben eines Mordopfers. So weit ging Kant nicht; er war Gegner einer Folter.

 

  Die anschließende Diskussion drehte sich um die rechtliche Behandlung der persönlichen Schuld des Täters bei Kant. Hierzu wurden sehr fachkundig und engagiert heutige Positionen mit denen von Kant abgeglichen. Lebhaft wurde es auch beim Thema, wie Kant die „rechtswidrigen Notwehraktionen“ von Vertretern der Bewegung „Letzte Generation“ beurteilt hätte. Kant sei ein entschiedener Verfechter des Rechtsstaats gewesen, so Schäfer. Andererseits habe er den Staat auch in die Verantwortung genommen, für das Wohl der Menschen zu sorgen, wobei er die nachkommenden Generationen ausdrücklich mit einbezogen habe.

 

Fazit aus Vortrag und intensiver Debatte: Auch nach 300 Jahren hat Immanuel Kant nichts an Aktualität verloren. Seine Wirkungsgeschichte hierzulande spiegelt sich deutlich im Grundgesetz, in Gesellschaft und im Miteinander wider. Aber Kant war auch unvermeidlich ein „Kind seiner Zeit“. Seine Wirkungsgeschichte für das Jetzt und für die Zukunft müsste auf seinem Wertefundament mit Blick auf den eingetretenen gesellschaftlichen Wandel und neue globale Themen wie Umwelt, Klima, Migration, Frieden, u.a. in einem Update („Zeitengewendete Aufklärung“) fortgeschrieben werden.

 

 Dem Programm für den wissenschaftlichen Part des Kantjubiläums ist die Hoffnung zu entnehmen, dass wir Antworten auf die Frage erhalten, was Kant zu den Menschheitsproblemen unseres Jahrhunderts sagen würde.

 

 „Denken ist reden mit sich selbst“ (Kant). Ja, richtig, dann aber sollte man sich anschließend auch mit anderen austauschen, andere Blickwinkel kennenlernen. Wie beim Vortrag mit Prof. Schäfer. Das verspricht Zugewinn! Eine gelungene frühe Auftaktveranstaltung der LESE für das Kantjahr. Man darf sich auf die nächste Veranstaltung dieser Art mit Univ.-Prof. Dr. Christoph Horn Woher kommt das Übel? -  Das Böse bei Augustinus und Kant " am 26. April 2023 in der LESE freuen.

 Prof. Dr. Günther Sokoll (Mitglied in Kantgesellschaft u. LESE)