Großartiger Cocktail unterhaltsam belehrender Information - Staatssekretär a.D. Härdtl erinnert an die Geschichte der Wiedervereinigung

Großartiger Cocktail unterhaltsam belehrender Information - Staatssekretär a.D. Härdtl erinnert an die Geschichte der Wiedervereinigung

 

Ziemlich exakt 35 Jahre nach dem Mauerfall erinnerte kürzlich auf Einladung der LESE ein Zeitzeuge par excellence vor 40 gebannten Zuhörern an die damaligen Ereignisse: Staatssekretär a. D. Wigand Härdtl, der seinerzeit im Bonner Innenministerium (Minister: Wolfgang Schäuble) die Arbeitsgruppe Deutsche Einheit leitete.

 

Der in dieser Form unerwartete Kollaps des kommunistischen Systems in Osteuropa habe langjährige Ursachen gehabt.. Der Erfolg der Solidarnosc-Bewegung in Polen und der umjubelte Besuch des polnischen Papstes in seinem Heimatland seien erste Wetterleuchten gewesen. Noch vor dem Mauerfall habe der damalige sowjetische Botschafter Falin im vertraulichen Gespräch erklärte: „80 Jahre haben wir alles falsch gemacht“. Bei einer Führung durch das im 19. Jahrhundert errichtete Parlamentsgebäude in Budapest sei, als Besucher die dort an Faden hängenden Sowjetsterne als nicht recht in die Architektur passend moniert hätten, erwidert worden, sie könnten ja zu gegebener Zeit einfach abgeschnitten werden.

 

In der DDR waren 1989 sowjetische Garderegimenter in einer Gesamtstärke von 300.000 Mann stationiert. Der von dem amerikanischen Präsidenten Reagan begonnene und von seinem Nachfolger Bush fortgesetzte Rüstungswettlauf habe den Ostblock ökonomisch überfordert. Die DDR sei mehr oder weniger Pleite gewesen. Franz Josef Strauß habe mit voller Rückendeckung des Bundeskanzlers Kohl in Absprachen mit dem DDR-Unterhändler Schalck- Golodkowski dafür Sorge getragen, dass die DDR mit Milliardenkrediten über Wasser gehalten wurde. Dafür seien insgeheim nach und nach auch erbrachte Gegenleistungen zugesagt worden: Humanere Grenzkontrollen, Rückbau der Minen und insbesondere die Herabsetzung der Altersgrenze von 65 Jahren bei der Erlaubnis von Reisen in den Westen. Ohne die Kredithilfen wäre die DDR außer Stande gewesen, ihre Sozialsysteme weiter zu finanzieren.

 

Die entscheidende Rückendeckung für Kohl sei aus den USA gekommen. Dort habe man ihm für seinen Einsatz bei der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses gedankt und großes Vertrauen entgegengebracht. Die geringe Sympathie, die von der französischen und britischen Regierung im Hinblick auf die Wiedervereinigung Deutschlands empfunden worden sei, sei demgegenüber nicht relevant geworden.

 

Das Regierungssystem der DDR habe sich in den entscheidenden Tagen als morsch erwiesen. Schwere handwerkliche Fehler seien symptomatisch gewesen. So habe die DDR-Regierung darauf bestanden, dass der Zug mit den Flüchtlingen aus der Prager Botschaft über Dresden in die Bundesrepublik zu fahren habe mit dem Ergebnis, dass dort das Bahnhofsgelände überfüllt war von weiteren Bürgern, die den Zug besteigen und ausreisen wollten. Nur so sei auch die stümperhafte Bekanntgabe der sofortigen Reisefreiheit bei einer Pressekonferenz durch das Politbüromitglied Schabowski zu erklären.

 

Die finanzpolitisch umstrittene Einführung der D-Mark bereits zum 1. Juli 1990 habe den Zweck verfolgt, die weitere Übersiedlung der Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik zu reduzieren. Das sei auch gelungen. Der nach Art. 23 des Grundgesetzes mögliche und schließlich auch erfolgte Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sei staatsrechtlich etwas anderes gewesen als die Fusion zweier Staaten. Er habe eine Zweidrittel-Mehrheit in der Volkskammer, im Bundestag und Bundesrat erfordert. Diese Mehrheitsverhältnisse seien schon in der alten Bundesrepublik aufgrund des Widerstandes der um Lafontaine gescharten Kreise nicht von vornherein zu erwarten gewesen. In der SPD habe sich aber schließlich Willy Brandt mit seiner Unterstützung der Wiedervereinigung („Jetzt kommt zusammen, was zusammengehört“) durchgesetzt.

 

In der Volkskammer waren die angestrebten Mehrheitsverhältnisse erst durch Neuwahlen zu erreichen. Diese führten im März 1990 zu einem Debakel für das Bündnis 90 und die Grünen, Parteien, denen sich die Angehörigen der Runden Tische überwiegend angeschlossen hatten. Sie hatten nicht für die Wiedervereinigung, sondern für eine DDR mit einem menschlichen Sozialismus gestritten.. Demgegenüber erhielt die Ost-CDU bei diesen Wahlen 40 % der Stimmen. Für deren Unterstützung trotz ihrer Vergangenheit als Blockpartei im alten Regime hatte sich Schäuble gegen den Generalsekretär der West-CDU, Volker Rühe, durchgesetzt,. Dieser hatte gewarnt: „Wer sich auf einen Misthaufen setzt, stinkt schließlich selbst“.

 

Bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag wurde der maßgebende Verhandlungsführer auf Seiten der DDR, Günter Krause, im Frühjahr 1990 erstmals von der bis dato in Bonn völlig unbekannten 35-jährigen Angela Merkel als Regierungssprecherin begleitet. Anfangs sei das Ziel verfolgt worden, das überkommene Recht der DDR so weit wie möglich zu erhalten. Dann sei aber während eines Urlaubsaufenthaltes von Krause aus dem Ministerrat der DDR signalisiert worden, das BRD-Recht möglichst vollständig zu übernehmen. Die nachfolgenden intensiven Bemühungen auf der beiderseitigen Beamtenebene, die einschlägigen Vorschriften zu durchforsten, seien von einem unglaublichen Spirit getragen worden. Alle Beteiligten hätten in dem Bewusstsein gearbeitet, sich in einem einmaligen historischen Moment zu befinden und eine Aufgabe ohne geschichtliches Vorbild bewältigen zu müssen. Bei der Vergabe der Autokennzeichen für die Städte und Kreise in der DDR habe man jedoch auf die Arbeiten eines Oberamtsrats des Bundesverkehrsministeriums aus den 50er Jahren zurückgreifen können, der bereits damals bei der Neuregelung der Kennzeichen in der alten Bundesrepublik C für Chemnitz, G für Gera und J für Jena freigehalten habe.

 

Schwierige Fragen hätten die Festlegung der Hauptstadt (aus den Ländern kam Widerstand gegen Berlin), dem Schicksal der Stasi-Akten, der Entschädigung oder Restituierung von Enteignungen, der Länderfinanzausgleich und der Nationalfeiertag aufgeworfen. Der am 3.11.1990 vollzogene Beitritt (80 % Zustimmung in der Volkskammer, 90 % im Bundestag und Einstimmigkeit im Bundesrat) sei bewusst vor den 41. Gründungstag der DDR gelegt worden, den zu feiern es zu vermeiden galt. Was die Stasi-Akten angehe, habe Minister Schäuble in dem Bestreben, die Vergangenheit ruhen zu lassen, zunächst eine Vernichtung aller Unterlagen befürwortet. Damit sei er aber gegen die Vertreter der DDR nicht durchgedrungen,. so dass es zur Gründung einer Stasi-Akten-Behörde gekommen sei mit dem ersten Vorsitzenden Joachim Gauck, dem späteren Bundespräsidenten. Aufkommende Überlegungen über eine neue gemeinsame Hymne und ein neues Wappen (anstelle des Bundesadlers) habe Schäuble mit der Bemerkung beendet, es handele sich um einen Beitritt, nicht aber um die Geburtsstunde einer neuen gesamtdeutschen Verfassung, wie sie in Art. 146 GG ins Auge gefasst war. Dieser Weg sei aus zwei Gründen nicht gangbar gewesen: zum einen wegen des großen Drucks aus der Bevölkerung der DDR, zum anderen wegen des engen weltpolitischen Zeitfensters. Der bundesdeutsche Nationalfeiertag 17. Juni zur Erinnerung an den Aufstand der Arbeiter in der DDR 1953 sei ohne großes Widerstreben aufgegeben worden, weil er sich in der Routine immer wiederkehrender Beschreibungen abgeschliffen hatte. Das hofft man bei dem jetzigen Feiertag, dem 3. November, zu vermeiden zu können, weil die Verantwortung für dessen Ausrichtung von Jahr zu Jahr unter den 16 verschiedenen Bundesländern wechselt.

 

Der Prozess der Wiedervereinigung sei innerhalb eines Jahres in atemberaubendem Tempo abgeschlossen worden Demgegenüber habe die Wiedereingliederung des Saarlandes nach der Volksabstimmung 1955 fünf Jahre gebraucht. Das Ergebnis könne sich im Osten Deutschlands, allen Unkenrufen zum trotz, sehr wohl sehen lassen. Es gebe viele wunderschöne Städte, was jeder anerkennen müsse, der ihr Erscheinungsbild aus früheren Jahren noch in Erinnerung habe. Der Zustand der Straßen im Osten sei meist besser als jener der Straßen im Westen.

 

Auf Fragen aus dem Publikum, ob die Alliierten Einfluss auf das Vertragswerk genommen hätten, erinnerte der Referent an die Versuche des französischen Staatspräsidenten Mitterrand, mit einem Staatsbesuch bei dem damaligen Vorsitzenden des Ministerrates Modrow die DDR-Regierung zu stärken. Das sei fehlgeschlagen, nachdem Kohl dem mit einem Besuch in Ostberlin zuvorgekommen sei und die Rückendeckung der USA genoss. Unabdingbar für das Gelingen der Wiedervereinigung sei die Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten Außengrenzen gewesen.

 

Die Sowjetunion habe ein militärisches Eingreifen abgelehnt; Gorbatschow habe Kohl gegenüber erklärt, es sei die eigene Angelegenheit der DDR, aut ihrem Gebiet für Ruhe zu sorgen. Dabei sei es geblieben, auch weil Übergriffe auf sowjetische Kasernen oder KGB-Zentralen (Putin agierte damals aus Dresden) unterblieben. Die Volksarmee habe indessen den 17. Juni 1953 noch in den Knochen gehabt: Die Niederschlagung des damaligen Aufstandes sei allein von den russischen Panzern besorgt worden. Bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig sei ein Schießbefehl auf 70.000 und mehr Demonstranten, so ausdrücklich auch Erich Mielke, nicht mehr infrage gekommen. Am 10.11. 1989 noch in Marsch gesetzte Einheiten fanden ,wie aus dem Publikum ergänzt wurde, auf den von Menschen blockierten Straßen kein Durchkommen und machten kehrt.

 

Der zunächst markante Einfluss der Runden Tische sei mit dem Mauerfall kontinuierlich zurückgegangen und schließlich zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Die Ost Bewohner erstrebten ein besseres Leben; Verdienste aus der Vergangenheit honorierten sie nicht. Auch der evangelischen Kirche gehe es längst nicht mehr so gut wie 1989, als sie als der Ort begehrt war, in dessen Räumen relativ geschützt oppositionelle Überlegungen artikuliert werden konnten.

 

Der schließlich erfolgte Umtausch von Ostmark in D-Mark im Verhältnis 1:1 beruhte auf einer politischen (nicht: finanzpolitischen) Entscheidung des Bundeskanzlers. Die Mehrzahl der Ökonomen hatte einen Umtausch im Verhältnis von 2:1 oder 3:1 favorisiert. Das wollte Kohl den Menschen im Osten nicht zumuten.

 

Nach einem ungemein anregenden Abend dankte das Publikum dem Referenten mit langem Beifall. Die Schilderung der tragenden Ereignisse und die mit erfrischenden Anekdoten gemischte Hintergrundanalyse erwiesen sich als großartiger Cocktail unterhaltsam-belehrender Information. (ES)