Ein vergleichbares Event hatte es in der LESE bislang nicht gegeben. Heinrich Geuther, von Haus aus Physiker, war über Westafrika, Ost-Timor und Papua-Neuguinea bereits weit gereist, als er in den Jahren 2015 und 2017 jeweils für mehrere Monate Bergkarabach besuchte, die (damalige) armenische Enklave im Staatsgebiet Aserbeidschans. Ein Ergebnis dieser Reisen: Inzwischen ist er Vorstandsmitglied in der deutsch-armenischen Gesellschaft.
Sein Vortrag „Armenien - konfliktreiches Bekenntnis zu Europa“ kürzlich vor der Lese- und Erholungsgesellschaft in Bonn war technisch anspruchsvoll begleitet. Ein eineinhalbstündiger Film über die Geschichte des kleinen Staates an der Bruchlinie von Europa und Asien zeigte aktuelle Aufnahmen der herrlichen Landschaft am Kaukasus, Fotografien und Zusammenschnitte aus alten Filmen, die von einer einfühlsamen, oft melancholischen Musik untermalt waren. Dazu trug Geuther einen von ihm selbst verfassten, die Bilder erläuternden teils sachlichen, teils poetischen Text vor. So entstand ein Gesamtkunstwerk, das die Anwesenden in seinen Bann schlug und sie, auch angesichts der unverkennbaren Empathie des Redners mit dem armenischen Volk, emotional sehr bewegte.
Armenien – vor der hellenistischen und römischen Zeit für eine kurze Spanne ein Großreich zwischen dem Mittelmeer und dem Kaspischen Meer, wurde im Jahre 301 christlich, als sich der damalige König unter dem Einfluss des Mönchen Gregor taufen ließ. Beeinflusst durch Gregor führte er ein armenisches Alphabet mit 36 Buchstaben ein. Bis heute schätzen die Armenier Bücher über alles. So werden in der Hauptstadt Eriwan alte Handschriften in bombensicheren Gebäuden aufbewahrt.
Angeregt durch die Schilderung des Lebens von Gregor dem Erleuchter entstanden unter dem jeweiligen Motto „Dem Gedächtnis entsteigt“ eine Reihe faszinierender Porträts armenischer Philosophen, Musiker, Maler und Schriftsteller. Ihre abenteuerlichen Lebensläufe führten sie immer wieder ins Ausland und ins heimische Armenien zurück. Diese hoch begabten Frauen und Männer machten allesamt die Erfahrung, dass starke Charaktere mit unabhängigen Gedanken von ihrer Obrigkeit wenig geschätzt werden.
Die beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurden für Armenien zu einem fürchterlichen Drama. In Auseinandersetzungen mit den immer nationalistischer gewordenen Jungtürken kamen 1909 30.000 Armenier ums Leben. Das war nur ein Vorbote des Völkermordes im Jahre 1915, der rund 1,5 Millionen Armeniern den Tod brachte.
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde Armenien 1920 selbstständig. Die Freude allerdings währte nicht lange. Nach einem Putsch armenischer Bolschewiken marschierte 1922 die Rote Armee in das Land ebenso ein wie türkische Truppen. Der Großteil Armeniens wurde Bestandteil der Sowjetunion. Ein Menetekel für deren bevorstehenden Untergang war ein Erdbeben in Armenien, das 20.000 Menschenleben kostete.
1991 wurde Armenien wieder selbstständig. Es kam bald zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Bergkarabach, die mit einem Sieg der Armenier endeten. 2020 führte eine neue Offensive Aserbaidschans zu armenischen Gebietsverlusten. Der noch im selben Jahr vereinbarte Waffenstillstand sollte von russischen Truppen gesichert werden. 2023 sperrte Aserbaidschan die Zufahrtswege ab, so dass keine Lebensmittel mehr über den Landweg nach Bergkarabach gelangten. Im September des Jahres wurde Bergkarabach vollständig erobert. Russland griff nicht ein.
Auf anschließende Fragen erläuterte Heinrich Geuther, dass die Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan nahezu undurchlässig gewesen seien. Grenzübergreifende Kontakte zwischen den Völkern habe es praktisch nicht gegeben. Von daher seien die Voraussetzungen für diplomatisch – friedliche Lösungen nicht gut gewesen. Nach der Eroberung Bergkarabachs habe der autoritäre Staatspräsident Aserbaidschans, Alijew, den Armeniern angeboten, die Staatsangehörigkeit Aserbeidschans anzunehmen und in ihrer Heimat zu bleiben. Aus den genannten Gründen sei darauf niemand eingegangen. Sämtliche 110.000 Bewohner seien ins armenische Stammland geflüchtet. Dort seien sie nicht immer gern aufgenommen worden. Aufgrund eines unverkennbaren Dialekts seien sie als Flüchtlinge leicht identifizierbar. Wirtschaftlich erschwerend habe sich ausgewirkt, dass nach Ausbruch des Ukraine-Krieges zahlreiche junge Russen im Bestreben, dem Kriegsdienst zu entgehen, nach Armenien gekommen seien. Ihre den Einheimischen überlegene finanzielle Ausstattung habe zu Teuerungen gerade auch auf dem Wohnungsmarkt geführt.
Die alte Hauptstadt Bergkarabachs, Stepanakert, sei inzwischen durch neu gebaute Zufahrtsstraßen von Aserbaidschan aus sehr gut erreichbar. Die dortigen markanten Repräsentativbauten aus armenischer Vergangenheit seien größtenteils zerstört worden. Die Universität existiere indessen weiter mit dem Unterschied, dass die Studenten nun aus Aserbaidschan kämen.
In Armenien herrsche die Vision, eines Tages der EU beitreten zu können. Diese latente Westorientierung habe gewiss dazu beigetragen, dass Russland von seinem Mandat als Schutzmacht Armeniens 2023 keinen Gebrauch gemacht habe. Illusionen, den Beitritt zur EU in der näheren Zukunft ins Werk setzen zu können, bestünden indessen nicht. Armenien sei ein Land ohne echte Verbündete.
Das Publikum dankte dem Referenten für seinen authentischen Bericht und die eindrucksvollen Bilder mit langem Beifall.(ES)