"Einsatz von Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium völkerrechtlich legitim" - Professor Andreas Heinemann-Grüder zum Krieg in der Ukraine

"Einsatz von Waffen durch die Ukraine auf russischem Territorium völkerrechtlich legitim" - Professor Andreas Heinemann-Grüder zum Krieg in der Ukraine

Mit einem Vortrag von Professor Andreas Heinemann-Grüder, Senior Fellow an dem der Universität Bonn angeschlossenen CASSIS (Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies), zum Thema „Der Krieg in der Ukraine und die politische Lage in Osteuropa“ setzte kürzlich die LESE ihre Vortragsreihe fort, mit der sie die zahlreichen aktuellen Krisen der Weltpolitik beleuchtet.

 

Der Referent stellte eingangs die Frage Was beeinflusst das Ende eines Krieges?“ Maßgebende Umstände seien die Natur des Konflikts (imperialistische Landeroberung, ethnische Konflikte, Präventivschlag etc.), Zahl und Stabilität der Gegner, vorhandenen Ressourcen, externe Unterstützung und Interessen der externen Großmächte, die in Aussicht gestellten Sicherheitsgarantien, Perspektiven für die kämpfenden Truppen wie auch für die Politiker und schließlich die Qualität einer Friedensdiplomatie.

 

In der Beurteilung der maßgeblichen Gründe für die Beendigung des Krieges gebe es zwei verschiedene Denkschulen. Die eine Seite (Dan Reiter) betont den Druck der militärischen Kosten und die Eindeutigkeit der Kräfteverhältnisse, die andere Seite (Hein Goermans) hält die Toleranz für Kompromisse und ein Vertrauen in die Zusage des Gegners für entscheidender. Schon zu Beginn hatte der Referent allerdings George Orwell zitiert: Der schnellste Weg, einen Krieg zu beenden, sei es, ihn zu verlieren.

 

Dem schloss der Referent Überlegungen zum Thema:Was sind die Unwägbarkeiten im gegenwärtigen Konflikt (die Wild Cards)?“ an wie etwa Einsatz von Atomwaffen, eine Konfrontation mit der NATO, ein nicht geplanter Zwischenfall mit Eskalationsfolgen, ein russischer Angriff auf die kritische Infrastruktur der Ukraine oder auch die Bildung einer zweiten Front, beispielsweise an den Grenzen Weißrusslands.

 

Es folgte eine Beleuchtung unangenehmer Tatsachen, die in der Rhetorik der Politik und der Medien eher nicht betont werden: Der Westen habe bisher die Ukraine gehindert, den Krieg nach Russland zu tragen. Für den globalen Süden sei der Ukrainekrieg ein regionales europäisches Thema. Einen Mediator aus dem Süden werde es demnach nicht geben, ein Regimewechsel in Russland nicht stattfinden. Darüber hinaus sei die Ukraine erschöpft, die inneren Brüche vertieften sich und der Krieg gefährde ihre Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Resultate der Annexion könne sie nicht revidieren. Auch gebe es keine Wunderwaffe als game changer. Die NATO werde die Ukraine erst verteidigen, wenn es nicht mehr nötig ist; NATO und Bundeswehr seien mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Schließlich: In Russland entstehe keine Friedenspartei, während in Mitteleuropa die „Minsk III-Fraktion“ wachse.

 

Die Frage „Wissen wir, was Putin will?“ behandelte Heinemann-Grüder anhand folgender Hypothesen:

 

1. Kontrolle der fünf annektierten Gebiete, Dnipro als Grenzfluss.

2. Instrumentalisierung und Neutralität der gesamten Ukraine.

3. Marionettenregime in Kiew-

4. Kontrolle über Belarus, Ukraine, Moldawien, Armenien, Georgien und Aserbaidschan

(BUWAGA) mit einem Zugangsverbot für die NATO und die EU.

5. Rückabwicklung der NATO-Erweiterung nach 1990 mit einer Kontrolle des Gebietes des alten

Warschauer Vertrages durch Russland.

6. Militärische Auseinandersetzung mit der NATO.

 

Die Wahrscheinlichkeit der Realisierung nehme mit jeder Ziffer ab. Demgegenüber wird seitens der NATO wie auch der Bundeswehr suggeriert, die Punkte 5-6 stellten eine ernste Gefahr dar.

 

Warum sollte Putin nachgeben?

 

Argumente pro:

 

Die Kosten der Kriegswirtschaft und der westlichen Sanktionen wiegen langfristig schwer.

Die Aggression ist in den Mittel- und Westeuropäischen Ländern mit einem Statusverlust verbunden. Die zukünftige bedingungslose Unterstützung durch China ist nicht hundertprozentig sicher. Und: Es gibt Bruchstellen im russischen Regime.

 

Argumente contra:

 

Der Krieg findet bislang fast ausschließlich auf dem Boden der Ukraine statt.

Putin ist der Gefangene seiner eigenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen.

Es besteht Aussicht auf einen Rückgang der westlichen Unterstützungsmaßnahmen.

Die russischen Ressourcen übersteigen die der Ukraine bei weitem.

Der globale Süden ist mindestens neutral, sympathisiert zum Teil mit Russland.

 

Worin liegt die Logik der Kursk-Offensive?

 

Beendigung der bloßen Defensivtaktik; es ist der zweite Versuch nach der (nicht erfolgreichen) Sommeroffensive 2023.

Sie erstrebt einen positiven psychologischen Effekt in der Truppe wie in der Bevölkerung. Sie ist eine Befreiung von den westlichen Vetos.

Russisches Territorium, gefangene Soldaten und die russische Bevölkerung wären Verhandlungsmasse bei späteren Friedensbemühungen.

Aufzeigen der Verwundbarkeit Russlands: Es hat schwache Grenzbefestigungen und Koordinationsprobleme mit der Folge interner Schuldzuweisungen. Putin war außer Stande, sein Schutzversprechen einzuhalten.

Russland soll gezwungen werden, sich weiträumiger zu verteidigen, und gehindert werden, sich primär auf den Donbass zu konzentrieren.

 

Die Hilfsmittel für die Ukraine werden gekürzt werden.

 

Knapp acht Milliarden € für 2024 sind bereits verplant. Die geplante Höchstgrenze für 2025 beläuft sich auf vier Milliarden €. Für 2026 sind nur noch drei Milliarden € vorgesehen, für die beiden Folgejahre noch jeweils eine halbe Milliarde.

 

Der Tenor der Bundesregierung lautet: „Der Topf ist leer“ mit dem Fazit, dass die militärische Unterstützung 2025 fast halbiert wird und danach auf weniger als ein Zehntel der heutigen Summe sinkt.

 

Empfehlen sich Friedensverhandlungen jetzt oder erst zu einem späteren Zeitpunkt?

 

Für sofortige Verhandlungen sprechen folgende Argumente:

Die Ukraine verfügt über keine Offensivfähigkeit; ihre Maximalziele (vollständige Befreiung der besetzten Gebiete) sind nicht erreichbar.

Russland besitzt die Eskalationsdominanz, während die Kräfte der Ukraine zu erschöpfen beginnen.

Die Unterstützung seitens der USA hat ihr Limit erreicht.

Die wichtigen Staaten Saudi-Arabien, Brasilien Südafrika und China plädieren für eine Beendigung des Krieges.

Bei den Verhandlungen sind Inseln einer Übereinkunft zu suchen und die verschiedenen Interessenkollisionen auseinander zu halten: Einerseits zwischen Russland und den USA, andererseits zwischen Russland und der NATO und schließlich zwischen Russland und der Ukraine.

 

Für eine Verschiebung der Verhandlungen auf einen späteren Zeitpunkt, so der Referent, sprechen folgende Punkte:

Russland muss zuvor erst weiter geschwächt werden.

Putin erkennt in jedem Kompromissangebot eine Schwäche des Gegners.

Es darf keine Anerkennung von Ungerechtigkeiten geben.

Laufende Verhandlungen würden den Waffennachschub aus den westlichen Hilfsländern vermindern.

Die Ukraine ist keinesfalls mit ihren Kräften völlig am Ende.

Mit der Lieferung von F 16, Mittelstreckenwaffen, Kurzstreckenraketen, Luftverteidigung und Distanzwaffen kann Russland (auch) hinter den Linien empfindlich getroffen werden.

 

Die gegenwärtigen Fähigkeiten der Bundeswehr beschrieb der Referent dann eher in grauen Tönen. Die Ernsthaftigkeit der Problematik sei in den maßgeblichen Berliner Ministerien erkannt; die Umsetzung in eine kriegstüchtige oder jedenfalls verteidigungsfähige Truppe sei indessen noch nicht weit gediehen. Das Sondervermögen i.H.v. 100 Milliarden Euro werde im Wesentlichen zur Hilfe für die Ukraine verbraucht. Ob zusätzliche Haushaltsmittel angesichts des in einem Jahr bevorstehenden Bundestagswahlkampfes für die Bundeswehr – und dann zu Lasten anderer Ressorts – zur Verfügung gestellt würden, sei sehr zweifelhaft. Aus der Vergangenheit eingeschliffene bürokratische Hürden stünden einer raschen Verbesserung entgegen. Überdies fehle es an einer substantiellen Strategiedebatte. Hätten bei der konventionellen Verteidigung Panzerbrigaden den Auftrag, keinen Zentimeter Boden preiszugeben, oder sollten sie nur einen „verstärkten Stolperdraht“ abgeben, um Raum und Zeit zu gewinnen?

 

Die Beurteilung der Stimmungslage in Mittel- und Osteuropa gebe zu übergroßem Optimismus keinen Anlass. Die Erbschaft des Sozialismus sei vielerorts noch lebendig.

Die Zustimmung in der Bevölkerung zur Demokratie hänge von der Qualität der jeweiligen Regierungen ab. 70 Prozent der Bevölkerung in Osteuropa seien der Auffassung, die politischen Eliten seien privilegiert. Nur in fünf von zehn Ländern in Osteuropa bevorzugten mehr als die Hälfte der Bürger die liberale Demokratie gegenüber einem autoritären Führer. Freilich glaubten auch nur 28 Prozent, dass ihre Werte durch den Westen bedroht würden.

 

Die Gründe für die Desillusionierung seien vielfältig. Bei der Transformation vom Sozialismus in die Marktwirtschaft sei man oft einem Raubtierkapitalismus begegnet. Die gleichzeitige Veränderung vieler Lebensbedingungen habe die Menschen überfordert. Das Vertrauen in den Staat, die Parteien und die Verbände sei gering. Ein starker Sozialstaat habe im Westen eher als im Osten eine „Selbstverwirklichung“ ermöglicht, und anders als im Westen werde vom Staat eine stärkere (paternalistische) sozialstaatliche Betreuung erwartet.

 

In der anschließenden lebhaften Diskussion betonte Professor Heinemann-Grüder, dass es in Putins Weltanschauung ein Grossrussisches Reich gebe, in der sich für die Ukraine kein selbstständiger Platz finde. In diesem Weltbild habe die in der Ukraine beobachtete Entrussifizierung (Nicolai Gogol sei als ausländischer Dichter diskriminiert worden) zu einem regelrechten Trauma geführt. Aus dem Publikum konkret befragt nannte er es völkerrechtlich völlig legitim, wenn die Ukraine mit ihren Waffen auch russisches Gebiet angreife. Er halte persönlich einen entsprechenden Einsatz von Taurus auch militärisch für sinnvoll.

In Russland sei eine Kriegsmüdigkeit derzeit nicht zu beobachten. Es komme auf die Metropolen an, und in denen seien Folgewirkungen des Krieges bislang so gut wie nicht zu spüren. Die Moskauer habe bislang am härtesten die Schließung der McDonald's-Filialen getroffen.

 

Abschließend bekräftigte der Referent seine Auffassung, dass Putin nicht plane, einen Konflikt mit der NATO zu riskieren. Er halte aus diesem Grunde einen Zugriff auf das Baltikum nicht für wahrscheinlich, zumal die dort lebenden Russen mehrheitlich den EU-Wohlstand beibehalten wollten. Putins Interesse gelte eher den nicht in die NATO aufgenommenen Mitgliedern der alten Sowjetunion.

 

Das zahlreiche Publikum bedankte sich mit anhaltendem Beifall für die präzise Benennung der sich für die unterschiedlichen Einschätzungen anbietenden Argumente.(ES/de)