"Quo vadis, Europa" - Einschätzung der gegenwärtigen Lage der EU und  Erwartungen an die nahe Zukunft - Vortrag bei der LESE

"Quo vadis, Europa" - Einschätzung der gegenwärtigen Lage der EU und Erwartungen an die nahe Zukunft - Vortrag bei der LESE

 

Über seine Einschätzung der gegenwärtigen Lage und über seine Erwartungen an die nahe Zukunft referierte kürzlich Dr. Wilhelm Schönfelder im voll besetztem Saal der LESE. Der ausgewiesene Fachmann hatte sich sein gesamtes berufliches Leben als Spitzenbeamter im Auswärtigem Amt mit den Fragen der Europäischen Zusammenarbeit befasst.

 

Zu Beginn der 1990er Jahre, so der Referenz, habe das Schlagwort vom „Ende der Geschichte“ die Runde gemacht. Der Gedanke der freiheitlichen Demokratie mit offenem Welthandel und einer auf Regeln gegründeten Friedensordnung schien definitiv gesiegt zu haben.

 

Jetztsei der Krieg zurück. Mit Russlands Überfall auf die Ukraine begann ein gewaltiger Umbruch. Das Völkerrecht, ein ohnehin schwaches Recht, spielt für das eigene Verhalten bei keiner der großen Mächte noch eine Rolle. Bewerte man die gegenwärtigen Lage, so Schönfelder, existiere "der Westen" nicht mehr.

 

Von dessen alten Werten halte auch Trump nichts. Regeln, Rechtsstaatlichkeit und offene Märkte – was Europa braucht – hätten derzeit in der US-Regierung kein Gewicht. In seiner Verachtung Europas werde Trump von seinem Vizepräsidenten Vance noch übertroffen. Die im NATO-Vertrag festgehaltene Beistandsgarantie sei praktisch aufgekündigt. Nicht ganz zu Unrecht sei daher die NATO als „Bündnis zur Schutzgelderpressung“ bezeichnet worden. Beim letzten NATO-Gipfel sei Trump auf einer „Schleimspur“ gehuldigt worden – das aber taktisch zu Recht. Europa müsse Zeit gewinnen, weil es sich derzeit nicht allein gegen Russland verteidigen könne. Bei den drei grossen C`s (Command, Control, Communication) gehe ohne US-Unterstützung nichts.

 

Europa benötige für seine Verteidigung einen eigenen Nuklearschirm. Diese Einsicht ist leichter gefordert als umgesetzt. Eigene deutsche Atomwaffen stehen allein schon wegen entgegenstehender Verträge nicht zur Debatte. Die britischen Atomwaffen sind nur einsetzbar bei US-amerikanischer Unterstützung. Dass Frankreich bereit sein sollte, sich bei einem von ihm nicht befürwortetem Einsatz seiner Atomstreitmacht von anderen Europäern überstimmen zu lassen, darf nicht erwartet werden. Die gelegentlich vertretene Ankündigung, es sei geopolitisch eine Pentarchie zu erwarten (USA, China, Russland, Indien, Europa), gehe mit der Einbeziehung Europas vielleicht fehl.

 

All das werde in den Tagesmeldungen freilich durch die Debatten verdrängt, wie die Migration nach Europa verringert werden könne. Diesem Zweck diene die 2024 vom EU-Rat und dem Europaparlament beschlossene , von den Mitgliedstaaten aber noch in nationales Recht umzusetzende Neuregelung des Asylrechts (GEAS), die eine prinzipielle Prüfung des Asylgesuchs an den Außengrenzen der EU vorsehe.

 

Zwischen 1980 und 2023 habe sich der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland von rund zehn auf ca. 35 Millionen erhöht. Ohne diese Zuwanderung wäre die umgekehrte Alterspyramide mit einem breiten Übergewicht betagter Bürger noch extremer ausgebildet. In Anbetracht der Geburtenziffern sei ganz Europa auf eine qualifizierte – dem Arbeitsmarkt willkommene, nicht die durch Erwartung von Sozialleistungen motivierte Zuwanderung angewiesen.

 

Wie lasse sich Europa wirksam voranbringen? Nicht verhandelbar sei die Rechtsstaatlichkeit, anzustreben sei jedoch:

- Verringerung der Kommissionsmitglieder

- Aufnahme gemeinsamer Schulden

- Abschaffung des Prinzips der Einstimmigkeit im EU-Rat bei zentralen Fragen

- differenzierte Integration (Europa verschiedener Geschwindigkeiten)

- Europäische Armee

- Gemeinsame Polizei (FBI Europa)

- Gemeinsame Fiskal - und Wirtschaftspolitik

- Europäische Staatsbürgerschaft.

 

Der vormalige EZB-Chef Mario Draghi, den er als Mann brillanter Ideen und Analysen kenne und schätze, habe 2024 in einem Gutachten zur Lage der EU den Leistungsabfall Europas beklagt. In puncto Digitalkompetenz, Patentanmeldungen und Infrastruktur spiele es in der zweiten Liga. Hier müsse gehandelt werden: „Do or die“.

 

Bei den nachfolgenden Fragen aus dem Publikum wurden eine EU-Verfassungsreform, denkbare Erweiterungen der Mitgliederzahl (der Referent: Evtl. das eine oder andere Balkanland) sowie die Migration innerhalb der EU und aus der EU angesprochen. So leben 200.000 Spanier in Deutschland, aber 1,5 Mill. Deutsche – nicht nur Rentner – in Spanien. Nach Dubai ausgewandert sind 27.000 Deutsche, allerdings auch 70.000 Ukrainer und 159.000 Russen.

 

Dem Wunsch nach größerer Härte gegen Trump entgegnete Schönfelder mit dem Hinweis auf den erforderlichen Zeitkauf, bis die Fähigkeit zur Eigenverteidigung erreicht sei.

 

Den pessimistischen Tönen wurde entgegengehalten, die Vereinigten Staaten hätten immer wieder isolationistische Phasen durchlebt und charakterlich schwache Präsidenten überstanden. Auch diesmal werde es wieder zu einer Kehrtwende kommen. Ein Abgesang auf den Westen sei verfrüht.

 

Die schonungslose Bestandsaufnahme des Referenten ging den Anwesenden unter die Haut. Sie bedankten sich mit lang anhaltendem Beifall. (E.S.)