"Bücher - meine Bücher" - Ahmed Altan über seinen Drang zum Schreiben

Der türkische Schriftsteller Ahmet Altan stand kürzlich im Mittelpunkt des Interesses beim Treffen des Literaturkreises. Neben der Besprechung seines Romans „Hayat heißt das Leben“ informierte Rosemarie Kuper auch über das Leben des auch bei uns sehr bekannten türkischen Schriftstellers und Journalisten und trug einen Text von ihm vor, in dem uns Altan daran teilhaben lässt, wie er zum Schreiben gekommen ist und wie er es selber empfindet. Ich wurde gebeten, diesen Text gekürzt auf unserer Seite einzustellen. Der Text aber hat mich so beeindruckt, dass ich wirklich nicht wusste, wo ich sinnvoll hätte kürzen können. Nun stelle ich den Text vollständig ein, so dass sich noch viele andere freuen können. Und jeder, dem es zu lang ist, hat ja immer die Möglichkeit, Teile zu „überfliegen“.

Dietrich Engel

 

Bücher, Meine Bücher

von Ahmed Altan

 

 

Mit fünf Jahren lief ich das erste Mal von zu Hause weg.

 

Nach stundenlanger Suche fanden mich meine Eltern in einer Buchhandlung in Bahçelievler, wie ich dort, selbstvergessen, lauter Bücher um mich herum verstreut, auf dem Boden saß.

 

Meine damals sehr jungen Eltern wussten nicht recht: sollten sie mit mir schimpfen oder sollten sie lachen.

 

Auf dem Nachhauseweg erzählte ich meinem Vater pausenlos von all den Büchern.

 

Mein Vater hörte mir zu und lächelte.

 

Ich war erst vor kurzem in die Vorschule gekommen, und schon hatte ich angefangen, mich mit Büchern zu beschäftigen.

 

Nichts, was ich in meinem Leben jemals gelernt habe, hat mich so beglückt wie diese Buchstaben.

 

Diese winzigen schwarzen Zeichen, nicht mehr als 28, 29 an der Zahl, ließen sich millionenfach kombinieren: sie konnten Frau werden oder Mann, sie konnten Pferd werden, konnten Drache werden, konnten Ritter werden, konnten Raufbold werden, sie konnten lustig werden, konnten traurig werden, Antarktis konnten sie werden, Ozean, Wolke, Baum, Blume konnten sie werden, Segen so gut wie Sünde.

 

Zu erkennen, wie Wörter aus Buchstaben entstanden, faszinierte mich, und ich konnte nie wieder von ihnen loskommen.

 

Wenn ich ein Buch aufschlug, trat ich ein in das Leben eines anderen Wesens, ich selbst wurde ein anderer, es war, als kostete ich von einem Zaubertrank; und wenn ich dann ein neues Buch aufschlug, also einen Schluck von diesem Elixier nahm, konnte ich je nachdem der Graf von Monte Christo oder Sherlock Holmes werden, der Kleine Prinz oder auch Raskolnikov.

 

Den Buchstaben, den Texten, den Büchern war ich mit Haut und Haaren verfallen.

 

Ich las einfach jedes Buch, das mir unterkam.

 

Anfangs las ich alle Bücher ohne Unterschied, ein Buch war ein Buch, und jedes übte auf mich den gleichen Zauber aus.

 

Wie ein Verliebter, der nur das Schöne an seiner Geliebten sieht, hatte ich an keinem Buch, das ich gerade las, das Geringste auszusetzen.

 

Erst allmählich fing ich an, „Mängel“ zu sehen und zwischen guten und schlechten Büchern zu unterscheiden, doch das tat ich nicht sehr gern; ich spürte zwar, dass ich mehr Erfahrung bekam, aber es kam mir so vor, als ließe die Liebe irgendwie nach.

 

Als ich noch den Büchern restlos verfallen war, konnte ich auch an „schlechten“ Büchern Vergnügen finden, das waren die Zeiten, in denen ich an Büchern nie etwas auszusetzen fand.

 

Entgegen der allgemeinen Auffassung bin ich der Meinung: der echte Bücherliebhaber sucht nicht die jeweils „besten“ Bücher aus, sondern versteht es, jedem Buch ohne Unterschied etwas abzugewinnen.

 

Vielleicht kann ich deshalb über kein Buch von vornherein etwas Schlechtes sagen, weil mir gerade die bösesten Kritiker weder für Buchstaben noch für Texte noch für Bücher etwas übrig zu haben scheinen.

 

Solche Leute, denen die Fähigkeit zur Begeisterung fehlt, die auf diesem Gebiet völlig unbeeindruckt bleiben, kann ich nur bedauern.

 

Auch heute drücke ich, wie ich es als Kind schon getan habe, jedes Buch erst einmal fest an mich, betrachte aufmerksam den Einband, dann schnuppere ich daran und atme ganz tief seinen jeweils eigentümlichen Geruch ein.

 

Ich bin nun einmal ein Büchernarr.

 

Die Bücher sind eine Kraftquelle, die mit meiner riesigen Liebe zu den Buchstaben in mein Leben gekommen ist, ihr Äußeres wird immer einen bestimmten Geruch verströmen, ihr Inneres wird immer etwas enthalten, das mich erheitert, das mich traurig macht oder zumindest meine Langeweile vertreibt.

 

Als ich klein war, sagte mein Vater zu mir: „Aus jedem Buch kann man etwas für sich gewinnen, selbst das schlechteste Buch wird dir etwas zu sagen haben.“

 

Ich denke genauso.

 

Und dann begann meine eigene Lehrzeit in der Kunst der Buchstabenmischerei.

 

Ich erinnere mich noch gut an den Augenblick, als ich meinen ersten selbst geschriebenen Roman in Händen hielt.

 

Ich betrachtete den Einband, es war ein schöner Einband, ich schnupperte daran.

 

Er roch wunderbar.

 

Dann blätterte ich darin, las ein, zwei Sätze, und erschrocken ließ ich das Buch fallen.

 

Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so erschrocken gewesen zu sein.

 

Ein lang, lang gehegter Wunsch war in Erfüllung gegangen: ich hatte mein Gesellenstück glücklich abgeliefert, aber wenn ich das jetzt las, kam es mir falsch und schlecht vor; offensichtlich beherrschte ich mein Handwerk nicht, verstand mich gar nicht auf die Kunst, und, was das Schlimmste war: jeder würde das jetzt sofort merken!

 

Aber: „Jeder fängt mal mit dem ersten Roman an“, heißt es, und so ist es auch; es bleibt mir ein Rätsel, wie ich es fertiggebracht habe, trotz Zittern und Zagen mein zweites Buch zu schreiben.

 

Vielleicht, weil Liebe blind macht…

 

Mit jedem meiner eigenen Bücher geht es mir so: ich nehme es liebevoll in die Hand, betrachte es, schnuppere daran, streichle den Einband, und kaum habe ich es aufgeschlagen und darin geblättert, werfe ich es erschrocken in die Ecke.

 

Warum? Während ich an dem Buch arbeite, denke ich, ich bin ein großer Schriftsteller; versuche ich aber hinterher, in meinem eigenen Buch zu lesen, komme ich zu dem Ergebnis: „ich bin nicht mal ein Schriftsteller“, und bilde mir auch noch ein, dass ziemlich viele Leute dieses niederschmetternde Urteil teilen werden.

 

Aber wie habe ich es geschafft, obwohl ich viele Kritiken meiner Bücher gelesen habe – und manche haben meine Bücher ziemlich verrissen - , obwohl ich mich selbst nicht lesen kann, und obwohl ich die Ablehnung meiner Bücher durch andere genau gespürt habe, dass ich trotzdem weitergemacht habe mit dem Schreiben und immer weiter schreibe?

 

Das kommt wohl daher, dass ich beim Schreiben von der Hoffnung beseelt bin, dass doch ein paar Menschen so denken und fühlen werden wie ich.

 

Diese dauernde Angst vor der Kritik und diese eigene Selbstkritik, das ist nun einmal so; sich schlechter als alle anderen Schriftsteller zu finden, alle anderen in den Himmel zu heben, sich ewig am unteren Ende des Pendels hängend zu wähnen, das ist offenbar Teil meines Berufes, es gehört wohl mit zum Handwerk.

 

Den süßen Reiz beim Schreiben und das dabei empfundene Hochgefühl ebenso zu kosten wie den bitteren Verlust der Selbstsicherheit nach dem Schreiben, das sind meines Erachtens die beiden Pole, um die das Schriftstellerdasein kreist; es ist , wie mit unserem Wissen vom Tod: zu wissen, dass es ihn gibt und ihn nicht wahrhaben wollen: zwischen diesen beiden gegensätzlichen Zuständen sollen wir das Leben aushalten. Genauso muss es die Schriftstellerei zwischen diesen beiden Zuständen aushalten.

Weder mit übertriebenem Selbstvertrauen noch mit ängstlicher Zurückhaltung lässt sich arbeiten, ebenso wenig aus purer Lust oder unter ständigem Weh und Ach.

 

Schriftstellerei ist keine simple Sache.

 

Es müssen schon zwei drei oder mehr Motive zusammenkommen, es braucht eben eine gute Mischung zur Herstellung eines Zaubertranks.

 

Und damit bin ich nach wie vor beschäftigt.

 

Nach wie vor bin ich hin- und hergerissen zwischen Selbstvertrauen und Selbstzweifel.

 

Nach wie vor, wenn ich eins meiner Bücher in die Hand nehme, streichle ich zuerst über den Einband, schnuppere daran, blättere ein wenig darin herum, und werfe es dann erschrocken weg.

 

Weiterzuschreiben war mir möglich gewesen, einfach weil mir das Buchstabenkombinieren einen so unheimlichen Spaß macht, dass in dem Moment der Gedanke an gut oder schlecht überhaupt keine Rolle spielt.

 

Und natürlich kenne ich auch das herrliche Siegesgefühl, wenn ich ein Buch beendet habe, das Gefühl: ich habe es geschafft, achtundzwanzig Buchstaben in ein Buch zu verwandeln.

 

Genau die Faszination, die ich als Kind erlebt hatte.

 

Ich tue nichts anderes als der von Faszination überwältigte kleine Junge damals in der Buchhandlung.

 

Fing damit eigentlich nicht alles an?

 

 

 

 

Übertragung: Rosemarie Kuper 15.3.2023