"Niemand hat das Recht, blind zu gehorchen" - Vortragsveranstaltung mit Professer René Buchholz

"Niemand hat das Recht, blind zu gehorchen" - Vortragsveranstaltung mit Professer René Buchholz

(E.S.) „Radikaler Universalismus - Jenseits der Identitäten“ lautete das Thema einer Veranstaltung zu der die Bonner LESE und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische-Zusammenarbeit Bonn (CJGZ) jetzt geladen hatten. Im Mittelpunkt stand das viel diskutierte Buch des deutsch-israelischen, in den USA lehrenden Philosophen Omri Boehm.

 

Boehm ist derzeit als Verfechter von Kants universalistischen Gedanken in aller Munde. Sein Buch ist vor kurzem auf der Leipziger Buchmesse mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet worden. Soeben hat er gemeinsam mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann ein neues Buch herausgegeben -„Der gestirnte Himmel über mir“, in dem sich die beiden Autoren über Kants Philosophie austauschen.

 

In einer einleitenden Zusammenfassung stellte der Vorsitzende der LESE, Emil Schwippert, zunächst die zentralen Gedanken aus Boehms Buch vor, auf die dann Professor René Buchholz, katholischer Fundamentaltheologe an der Uni Bonn und Mitglied der CJGZ, teils zustimmend, teils kritisch einging.

 

I.

Boehm erinnert in seinem Buch an den weißen Abolitionisten John Brown, der 1859 einen Überfall auf ein Waffenarsenal des Heeres der USA angeführt und die Wachen gefangen genommen hatte. Er plante, die erbeuteten Waffen an die Sklaven in den Südstaaten zu verteilen und deren Befreiungskrieg zu initiieren. Zwei Tage später war der Spuk vorbei. US-Marines stürmten das Arsenal. Brown wurde festgesetzt und später hingerichtet. Seine Aktion wurde in den Nord- wie in den Südstaaten von Journalisten, Geistlichen und Politikern (einschließlich Abraham Lincoln) verurteilt. Es sei Wahnsinn, die Autorität der universellen Gerechtigkeit über die herrschende Auffassung zu stellen, die Gesetze müssten eingehalten werden. Die USA seien die Verkörperung der demokratischen Freiheit in der Weltgeschichte; die Einheit, die diese Demokratie aufrechterhalte, müsse, auch um den Preis einer Duldung der Sklaverei, gesichert bleiben. Für die Abolitionisten widersprach die Sklaverei zeitlosen Gerechtigkeitsprinzipien mit einer höheren Autorität als sie Gesetze und Verfassungen haben konnten. Sie waren radikale Universalisten.

 

II.

Boehm berichtet, dass seine Studenten noch vor einem Dutzend Jahren den Worten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von der gleichen Beschaffenheit aller Menschen und ihrer Ausstattung mit unveräußerlichen Rechten als selbstverständlich zugestimmt haben. Heute herrscht ein anderer Konsens: Amerikas Gründerväter waren Sklavenhalter, Kant war selbst Rassist, unter „all men are created equal“ seien nicht alle Menschen, sondern nur weiße Männer verstanden worden.

 

Wie erklärt man demgegenüber den Studenten die Existenz universaler Rechte?

Ausweislich der Unabhängigkeitserklärung wurden wir von unserem Schöpfer mit unseren Rechten als Menschen ausgestattet. Es ist heute weithin verpönt – und auch Kant tat ist nicht –, den Universalismus mit Gott zu begründen. Stattdessen gilt der Rückgriff, die Natur habe uns mit Rechten ausgestattet, als modern. Das ergibt aber nur dann einen Sinn, wenn die Natur nach göttlicher Absicht oder sonst irgend einem Telos (Zweck) verfährt. Ist die Natur bloß ein darwinistischer Mechanismus, wird der Gedanke von natürlichen Rechten leer. Die blinde Evolution stattet kluge Tiere mit allen möglichen Begierden, Kräften und Trieben aus, aber nicht mit natürlichen Rechten. Mit den Worten von Nietzsche:

 

In unserem abgelegenen Winkel des Weltalls, auf jenem Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden, sind nicht nur alle Menschen gleich, sondern auch alle Tiere, Pflanzen und Steine.“

 

Dieser auf den Punkt gebrachte Nihilismus ist, so Boehm, ein Produkt des Rationalismus seit Spinoza: „Wir verlangen noch begehren etwas, weil wir es für gut halten, im Gegenteil, wir halten es für gut, weil wir es begehren. Würden Menschen frei geboren, würden sie, solange sie frei blieben, keinen Begriff von gut und schlecht bilden.“

 

Dieser Rationalismus der Aufklärung habe den Universalismus untergraben. (Hier nahm Prof. Buchholz Spinoza gegen Boehm teilweise in Schutz, indem er auf dessen Einsatz für die Freiheit des Bürgers im Staat verwies.)

 

III.

Auf diese Krise hat Kants philosophische Revolution eine Antwort gegeben. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ hätte genauso gut „Kritik der Aufklärung“ heißen können. Kant erwidert: Dem Naturrealismus zufolge wäre der Mensch nur eine Marionette, und die Freiheit, moralischen Empfindungen zu folgen, bloße Täuschung. Allein der Mensch ist aber zu einer selbstverschuldeten Unmündigkeit im Stande. Alle gesunden Tiere wachsen auf natürliche Weise zu reifen Vertretern ihrer Art heran. Bei Menschen bedeutet Reife, Verantwortung zu übernehmen, eine Leistung, die von der Fähigkeit zum selbstständigen Denken abhängt, woran auch gesunde Erwachsene scheitern können. Menschen sind daher keine Naturgeschöpfe. Menschheit kann nur ein moralischer Begriff sein, der Freiheit voraussetzt. Sie sind für den Ruf nach dem, was sie tun sollten, offen. Darin unterscheiden sie sich von den Tieren. Wenn es richtig sein mag, vom Tierrechten zu sprechen, ist es doch sinnlos, über Tierpflichten zu reden.

Die Freiheit des Menschen, moralische Zwecke zu verfolgen, führt, wie Prof. Buchholz erläuterte, zu den beiden berühmten Forderungen Kants in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“:

 

  • Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

  • Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.

     

Die Menschen haben nicht einfach nur einen Wert oder Preis; sie verfügen über eine absolute Würde. Wir akzeptieren die Autorität der Gerechtigkeit nicht, weil Gott es uns befiehlt. Hiob gründete, als er die Gerechtigkeit Gottes einforderte, seine Moralität nicht auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität.

 

Einen strengen Universalismus vertrat auch Martin Luther King. Er kannte zwei Arten von Gesetzen, gerechten, denen man zu gehorchen hatte, und ungerechten, denen der Gehorsam zu verweigern war. Im Vietnam-Krieg kritisierte er die Kriegspolitik seines Landes, weil er sie für ungerecht hielt. Bei seinen Mitstreitern in der schwarzen Emanzipationsbewegung galt er daraufhin als Verräter, weil der Krieg innenpolitisch für die Emanzipation der Schwarzen förderlich war. King hielt diesen Einwand für verfehlt: Ein universalistischer Grundsatz kann seine ethischen Prinzipien nicht im Blick auf taktische Vorteile aufgeben.

 

IV.

Demgegenüber lautet der zentrale Satz des modernen Liberalismus:

Kümmert euch um die Freiheit, dann kümmert sich die Wahrheit um sich selbst.

Wie der Staat niemandem eine Religion aufzwingen soll, so hat er auch nicht das Recht, einen Begriff von Gerechtigkeit zu propagieren. Dem entspricht in der Rechtstheorie die Überzeugung, dass alle Rechtssätze nur einen Ausdruck des Zeitgeistes enthalten, unter dessen Herrschaft sie entstanden sind. Unter Gerechtigkeit verstehe jeder etwas anderes, und die eingebildete Gewissheit normativer Wahrheiten fördere nicht die Kultur, sondern die Barbarei. Philosophischer Absolutismus sei ebenso gefährlich wie politischer Absolutismus, und mit dieser Argumentation wurden die Ursprünge des deutschen Nationalismus auf Kant zurückgeführt.

 

Von einem anderen Ansatzpunkt lehnt die Identitätsbewegung jeden Universalismus ab. Berüchtigter Ausgangspunkt war die Ausstellung eines Gemäldes einer weißen Künstlerin im Jahr 2017, das den verstümmelten Körper eines 14jährigen Schwarzen zeigte, der in den 1950er Jahren von einem weißen Mob gelyncht worden war. Die Identitätsbewegung forderte, das Bild zu entfernen, mit dem eine weiße Person schwarzes Leid als Rohmaterial verwendet und in Profit und Unterhaltung verwandelt habe. Das Bild wurde nicht entfernt, aber eine Erklärung der weißen Künstlerin hinzugefügt, sie könne nicht wissen, wie es sei, in Amerika schwarz zu sein, aber sie wisse, was es heiße, eine Mutter zu sein, und der ermordete Schwarze sei der einzige Sohn seiner Mutter gewesen. Damit akzeptierte sie die Prämisse, dass das Gemälde habe entfernt werden müssen, wenn sie nicht eine andere angemessene Identität vorzuweisen gehabt hätte.

 

Dem hält Boehm entgegen, dass weder eine schwarze noch eine weibliche oder jüdische Erfahrung in irgendjemandes Besitz sein kann. Die Tatsache, dass kein menschlicher Schmerz jemandes Eigentum sein kann, impliziert nicht, dass sie nicht Gegenstand der Kunst sein kann. Im Lichte der Identitätsauffassung hat ein Kunstwerk nie einen objektiven Sinn, sondern das Gewollte erschließt sich stets nur aus der Person des Autors. Das ist genau das Gegenteil der Kunstauffassung von Kant. Prof. Buchholz zitierte zustimmend eine Bemerkung des Soziologieprofessors Detlev Claussen: Wie ein denkende Mensch heute noch das Wort Identität in den Mund nehmen kann, ohne rot zu werden, muss verwundern.

Aus demselben Grund kann gegen Kants Lehre nicht mit Erfolg vorgebracht werden, er selbst habe sich nicht stets an die von ihm verkündeten ethischen Grundsätze gehalten. Nicht zu leugnen sind seine anthropologischen und rassistischen Ausführungen, die Menschheit habe ihre größte Vollkommenheit bei den Weißen erreicht. Aus Schwächen in der Lebensführung kann indessen nicht die Fehlerhaftigkeit eines Gedankens abgeleitet werden. Zudem, so Boehm, hat Kant die Würde und die Freiheit sämtlicher Menschen, unbeschadet von Hautfarbe und Geschlecht, stets für unantastbar gehalten.

 

V.

Unmündigkeit ist für Kant das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Oft wird, wie Boehm ausführt, angenommen, mit Unmündigkeit meine Kant eine Neigung, bequem aufs Denken zu verzichten, indem man es an andere (Fachleute) delegiert. Er warne aber auch und gerade vor einer Denkweise, die sich blind der aktuellen Mehrheitsmeinung anschließt. Er räume ein, dass die meisten Menschen das alles aus eigener Kraft nicht leisten können. Die Aufklärung müsse erst durch Wenige (Propheten) erreicht werden, denen es gelinge, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes das Joch der Unmündigkeit selbst abzuwerfen und sodann zu verbreiten, so dass eine Aufklärung der Öffentlichkeit möglich ist. Mit den Worten von Prof. Buchholz: Das 18. Jahrhundert war ein Zeitalter der Aufklärung, nicht aber – genauso wenig wie spätere Jahrhunderte – ein aufgeklärtes Zeitalter.

 

Ein solches Vorbild, so Böhm, ist der biblische Abraham. Während Moses (nur) der Überbringer eines göttlichen Regelwerkes gewesen sei, das streng habe befolgt werden müssen, (das war Kants Verständnis allgemein von der jüdischen Religion) – habe Abraham sich mit seinem Gott kritisch auseinandergesetzt. Als er ihn im Begriff gesehen hat, die Städte Sodom und Gomorrha mit all ihren Bewohnern zu vernichten, protestierte er bei ihm:

 

Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Das sei fern von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? Ach sieh, ich habe es auf mich genommen, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.

 

Abraham hatte, wie Böhm ausführt, verstanden, das Menschen Lebewesen sind, die der Pflicht zur Gerechtigkeit folgen und aus diesem Grund kein Recht haben zu gehorchen, wenn von Ihnen verlangt wird, Ungerechtigkeiten zu begehen: auch nicht gegenüber Gott. In diesem Sinne wusste Kant, was Abraham auf die vermeintlich göttliche Stimme, die ihn zum Verbrennen seines einzigen Sohnes aufforderte, hätte antworten müssen: „Dass ich meinen guten Sohn nicht töten soll, ist ganz gewiss, dass aber Du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss und kann es auch nicht werden.

 

Prof. Buchholz stellte im einzelnen dar, wie Boehm mit philologischen-semantischen Erklärungen zu belegen versucht hat, dass bei richtiger Lesart der Isaak-Geschichte (Genesis 18,17-33) Abraham nicht auf Weisung eines von Gott gesandten Engels, sondern aus eigenem Entschluss von der Tötung seines Sohnes abgesehen und stattdessen einen Widder geopfert habe. Er teile nicht Boehms Sicht des eindeutigen Gegensatzes von Moses, dem bloßen Überbringer von Regeln, und Abraham, dem kritischen Widerpart. Denn auch Moses habe Gott (mit Erfolg) ermahnt, das Versprechen, sein Volk aus Ägypten heil zurückzuführen, einzuhalten (pacta sunt servanda) und nicht wegen Fehlverhaltens zu bestrafen. Auch das sei eine Zivilisierung Gottes gewesen.

 

VI.

In der anschließenden Diskussion wurde einerseits die Auffassung vertreten, ethische Grundsätze seien, wenn in die Welt geschaut werde, nicht universal, sondern jeweils von Kultur und Zeit abhängig Die Weisen Ostasiens sein zu völlig anderen Ergebnissen gekommen als die abendländischen Philosophen. Andererseits wurde lebhaft die Frage erörtert, wie es denn vorstellbar sein könnte, dass – von wem ersonnene oder formulierte? – ethische Grundsätze das Primat gegenüber Gott beanspruchen können: Ein Grundsatz dem, wie Prof. Buchholz ausführte, Kierkegaard vehement widersprochen hat.

 

Mit einem Getränk in der Hand wurde noch lebhaft weiter diskutiert und ein in jeder Hinsicht denkwürdiger Abend beschlossen.

Foto: Karin Schwippert